Dienstag, 14. Mai 2013

Dear Reader, Stuttgart, 13.05.2013

Konzert: Dear Reader
Vorband: Traded Pilots
Ort: Club Schocken, Stuttgart
Datum: 13.05.2013
Zuschauer: vllt. 150 - 200
Dauer: Dear Reader 76 Minuten / Traded Pilots 25 Minuten



Erhabene „Ohohoho“- oder „Ahaha“-Chöre ziehen sich durch den ganzen Abend. Cherilyn MacNeil, die junge Südafrikanerin, die sich hinter dem Künstlernamen Dear Reader verbirgt, gelang mit ihrem vierten Album „Rivonia“ der große Wurf. Sie hat ihr Meisterwerk, ihr ganz persönliches „Graceland“ geschaffen. Ein Album so ausdrucksstark wie lyrisch stringent, von solch musikalischer Grazie wie kaum ein anderes Werk in den letzten Monaten.

Die Wahl-Berlinerin hat mal wieder die Bandbesetzung nahezu komplett geändert. Es ist erst das sechste Konzert dieser Formation. Noch breiter als auf den vorhergegangen Alben ausgefallen, gelingt es den herausragenden Musikern den Sound „Rivonias“ auch live zu erzeugen. Charmante Storyteller-Qualitäten besitzt Cherilyn MacNeil schon immer, doch selten hat sie eine berührendere Geschichte als in „The Man Of The Book“ erzählt. Auf der gemeinsamen TV-Noir-Tour mit Herrenmagazin im November erstmals gehört, brannte sich die Geschichte ihres Ur-Ur-Großvaters, der einst mit Mahatma Gandhi durch Südafrika reiste, fest in mein Gedächtnis ein. Grautöne findet man auf Dear Reader – Alben selten, MacNeils Geschichten sind farbenfrohe Schilderungen. Auf dem aktuellen Album drehen sie sich alle um die Vergangenheit ihres Heimatlandes. Der räumliche wie auch kulturelle Abstand Berlins zu Johannesburg spielt hierbei sicherlich eine ganz signifikante Rolle, vielleicht auch eine Prise Heimweh. Die Bezugnahme auf ihre Vorfahren legt das Nahe, ebenso der Wunsch und die Traurigkeit darüber, ihren Ur-Ur-Großvater niemals kennengelernt zu haben. Inspirierend ist dessen Leben, das Leben des Alber Bakers sicherlich. Stark christlich geprägt, ließ er im rassistischen Apartheid-Südafrika Gandhi in seinem Bett schlafen und versuchte ihn immer wieder zum Christentum zu konvertieren. Ein lustiger Gedanke, der einen schmunzeln lässt. Die sechs-köpfige Band spielt darüber wundervollen Folk mit starken World Music – Einfluss. MacNeil singt am Klavier, während vor allem Sam Vance-Law am Akkordeon die Klangästhetik entscheidend beeinflusst. Bewusst, wie ich annehme, nähern Dear Reader den Sound an Paul Simons Magnus Opus „Graceland“ an, schließlich coverte man im November noch mit Herrenmagazin „Under The African Sky“. Vance-Law, der bei Cherilyn MacNeil bei der TV-Noir unterstützte, ist ein unschätzbarer Gewinn. An Violine, Synthesizer, Akkordeon und vor allem als begnadeter Vokalist leistet der junge Kanadier einen großen Beitrag zur hochklassigen Musik, auf dem Album – und ganz besonders live. Gemeinsam mit Emma Greenfield, die in dieser Dear Reader Besetzung Gitarre, Trompete, Keyboards spielt und ebenfalls fantastische Backround-Vocals beisteuert, eröffnete Vance-Law mit seinem eigenen Folkprojekt Traded Pilots den Abend.


25 Minuten spielten die beiden in Berliner lebenden Kanadier glasklaren Folk in englischer Tradition mit starken kammermusikalischen Anleihen. Der Rahmen stimmt, die Umsetzung gelingt ausnahmslos. Verträumten, zweistimmigen, versetzten Gesang zu dezenten Akustikgitarren- und Geigenmelodien habe ich so graziös niemals zuvor gehört. Faktisch hat man es eher mit klassischen Klängen, als mit herkömmlicher Popmusik zu tun. Mal an Erland and the Carnival oder Fairport Convention erinnernd, finde ich immerhin einige wenige Referenzen, die mehr schlecht als recht passen. „Swallow Your Tears“, das Vance-Law im herrlichen Bariton beginnt, bevor Greenfield einsetzt, ist eine echte Perle. Lieder wie „Bright Bonnie Roses“ oder „Songs For The Dead“ verdienen zumindest gehört zu werden. Ich höre mich selber schlucken, es scheint still zu sein im Schocken, der Abend beginnt höchst würdevoll.



Würdevoll ist ein Adjektiv, das Cherilyn MacNeils Bühnenpräsenz gut umschreiben kann. Im roten Kleid, mit auffallender Halskette und ohne Schuhe haucht die von Grund auf sympathische Sängerin ihre wunderbaren Lieder aus Südafrikas Historie und streut hier und da ältere Titel ein, die erwartungsgemäß ein wenig euphorischer aufgenommen werden. Ob an Klavier, Akkordeon oder Akustikgitarre, nie wirkt die begabte Musikerin deplatziert. „Good Hope“ über die europäische Entdeckung und Erschließung, die auch ihre Vorfahren nach Afrika führte, steht für den geschichtsträchtigen Folkpop ihres aktuellen Albums. Zu passenden Violinenklängen, mächtigen Seemanns-Chören von Vance-Law und dem ausgezeichneten Bassisten Michael Vinne, illustriert sie die Besiedlung ohne zu kritisieren oder gar zu beschönigen. Davor leistet Greenfield als zweite Stimme beim Ethno-Pop von „Took Them Away“ meisterliche Schwerstarbeit. Dass „Dearheart“, der große Hit vom 2008er Album „Replace Why With Funny“, dazwischen nicht heraussticht, bezeugt die große Klasse der neuen Songs, dennoch ist dieser der Song, der dem ätherischen Geigenspiel des kanadischen Multiinstrumentalisten, mit runder Brille und grauem Hemd, die deutlichsten Freiräume lässt.
Wer bezweifelt haben sollte, dass Dear Reader auch politische Texte schreiben könnte, wird spätestens mit „27.04.1994“ des Gegenteils überzeugt. Mit dem auf das Datum der ersten freien Wahlen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid-Ära bezogenen Titel wird klar, dass es sich um ein Loblied auf Freiheit, Demokratie, Nelson Mandela und gegen Rassismus handelt. Ein wichtiger Part der Nationalgeschichte des Landes, der auf dem augenscheinlich konzeptionell angelegten Album nicht fehlen darf und live eine äußerst dynamische Wirkung entfaltet, was nicht zuletzt auf den maßgenauen Beat des Schlagzeugers Thomas Fietz zurückzuführen ist.

Anders als im vergangenen Jahr bei meinem ersten Dear Reader Konzert im mittlerweile geschlossenen Speakeasy macht einem auch die Technik keinen Strich durch die Rechnung und die Akustik ist tadellos. Cherilyn MacNeil fühlt sich sichtlich wohl: „Ich bin froh zurück in Stuggi-Town zu sein“, begrüßt sie fröhlich das Publikum und findet in ihren höflichen Ansagen immer schmeichelnde Worte für die schwäbische Metropole und nimmt die Schwaben generell vor der ihnen entgegenschlagenden feindlichen Stimmung in Berlin in Schutz. „Many people in Berlin really hate Stuttgart, but I love it!“ Sie meint es sichtlich ernst, begeisterter Applaus quittiert die Stellungname.

Ich freue mich, dass es „Rivonia“ komplett zu hören gibt, dennoch ist es jedes Mal wieder schön einen bekannten älteren Titel zwischen den ausnahmslos guten Neulingen zu entdecken. „Whale (BooHoo)“ zum Beispiel. Der verschrobene Song, der 2011 auf dem ebenfalls als Konzeptalbum angelegten Album „Idealistic Animals“ veröffentlicht wurde, begeistert mit seinem starken Refrain und gibt den drei Backroundstimmen die große Möglichkeit zu brillieren. „We'll cover New York / with icy, icy blue / And the Statue of Liberty / she'll be poking through / And the last time that you see her / it'll be from a canoe / Singing Mama Goodbye / You know we'll always miss you“, ohne wenn und aber handelt es sich um ein Highlight eines erstklassigen Konzerts, bevor mit „Back From The Dead“ und „Already Are“ nochmals zwei neue Songs folgen. 

 
So wie ich „Rivonia“ für das beste, stimmigste Album halte, sehe ich „Great White Bear“ in seiner fragilen Gestalt als großartiges Lied aus MacNeils Feder. Dass die todtraurige Ballade mit ihrem extraordinären Text wohl niemals aus der Setlist fallen wird, bleibt zu hoffen. Er verbleibt als einer der besten Lieder der späten 00er Jahre – und das meine ich ernst. Dann gibt es das packende Songfinale, Gänsehaut, Euphorie und jede Menge hochklassige Musik.

Victory“ den Schlusssong des aktuellen Albums, dann ist das reguläre Set schon vorbei. Drei Zugaben, darunter die Band-Klassiker „Bend“ und „Monkey (Go Home Now)“ zum Schluss.

Vier Mal habe ich Dear Reader in den vergangenen zwölf Monaten gesehen, nie war es besser als heute. Die Besetzung wechselte stets, besser als die jetzige kann sie kaum werden. Geht hin, genießt es und betet, dass wir noch lange Freude an diesem Sextett haben dürfen, bevor Cherilyn MacNeil Dear Reader ein weiteres Mal neu erschafft. Doch auch darauf darf man gespannt sein, womit uns die kreative Johannesburgerin wohl als nächstes überrascht.

 

Setlist, Traded Pilots, Stuttgart:

01: Winds
02: Penny
03: Swallow Your Tears
04: Bright Bonnie Roses
05: Songs For The Dead
06: Rock
07: Bye Bye Baby 


Setlist, Dear Reader, Stuttgart:

01: Man Of The Book
02: Took Them Away
03: Dearheart
04: Good Hope
05: 27.04.1994
06: Down Under, Mining
07: Whale (BooHoo)
08: Cruelty On Beauty On
09: From Now On
10: Man (Idealistic Animal)
11: Back From The Dead
12: Already Are
13: Great White Bear
14: Victory

15: Teller Of Truths (Z)
16: Bend (Z)
17: Monkey (Go Home Now) (Z)


Links:

- aus unserem Archiv:
- Dear Reader & Herrenmagazin, Freiburg, 13.11.2012
- Dear Reader & Get Well Soon, Düsseldorf, 04.10.2012 (Ursula)
- Dear Reader & Get Well Soon, Düsseldorf, 04.10.2012 (Gudrun)
- Dear Reader, Mannheim, 19.05.2012
- Dear Reader, Wiesbaden, 24.01.2012 
- Dear Reader & Laura Gibson, Paris, 18.01.2012 
- Dear Reader, Weinheim, 16.09.2011 
- Dear Reader, Frankfurt, 11.09.2011 
- Dear Reader & Ramona Falls, Wien, 08.10.2009
- Dear Reader & Ramona Falls, Marburg, 06.10.2009
- Dear Reader & Ramona Falls, Düsseldorf, 28.09.2009 
- Dear Reader, Haldern, 15.08.2009 
- Dear Reader, Berlin, 07.08.2009 
- Dear Reader & Get Well Soon, Paris, 06.05.2009 
- Dear Reader & Get Well Soon, Nijmengen, 25.04.2009 
- Dear Reader, Köln, 18.04.2009 
- Dear Reader, Paris, 19.02.2009 
- Dear Reader & Sophie, Köln, 12.02.2009

1 Kommentare :

Sophie hat gesagt…

Danke für den Bericht. Freue mich auf Donnerstag in München....Werde mir das hier wünschen, mal sehen, ob es klappt, dass ich es noch einmal höre...
http://youtu.be/bSMCb3GkI8c

 

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